Die Kunst des Reisens
Man müsste den Mut Goethes haben. Bei Nacht und Nebel aufbrechen, alles hinter sich lassen und zwei Jahre durch Italien reisen. Zeit haben, monatelang an einem Ort bleiben können, spüren, wie es sich hier lebt. Frei sein und weiterreisen.
Seien wir ehrlich: Urlaub und Reisen machen heutzutage nahezu ebenso viel Stress wie der Job. Arbeiten bis zur letzten Sekunde. Koffer packen. Zu nachtschlafender Zeit auf den Flughafen. In das enge Flugzeug, das in Nullkommanichts Klimazonen durchfliegt und uns, ohne dass die Seele eine Chance gehabt hätte, mitzukommen, in irgendeiner heißen Gegend wieder auslässt. Was folgt ist das pauschal gebuchte Ressort. Eine topografische Retorte, eine Künstlichkeit ohne Substanz, die man sich schönredet, damit die Realität dem Wunschdenken standhält. Nach Hause zurückgekehrt hält man mit aller Kraft den aufkeimenden Verdacht nieder, dass man diese zwei Wochen eigentlich besser im Schwimmbad verbracht hätte. Das wäre billiger gewesen, hätte weniger Stress verursacht und einen höheren Erholungsfaktor gehabt. Reisen jedenfalls ist das nicht, sondern bloß ein Ortswechsel.
Aber kann man heute noch reisen? Wie Goethe? Wie Lawrence Durrell, D. H. Lawrence oder Hermann Hesse? Langsam, mit Bedacht, aufmerksam und mit Empfindsamkeit. Reisen mit Muße zum Schauen, Riechen, Hören, Begegnen? Reisen mit allen Sinnen also? Ein Abenteuer der Sinne und der Seele erleben, ohne verordnetes Spektakel? Man kann. In gewisser Hinsicht zumindest.
Wenn schon auf den Spuren von Goethe, Durrell, Lawrence und Hesse, dann muss es Italien sein. Vom Norden bis in den Süden, vom Brenner bis nach Palermo mit öffentlichen Verkehrsmitteln – also auch mit dem kleinstmöglichen ökologischen Fußabdruck. Ein wenig Zeit sollte man haben. Und leichtes Gepäck. Weniger ist mehr, kombinieren alles – und man macht trotzdem die obligatorische bella figura.
Der Vorteil, wenn man in der Bahn und nicht hinter dem Steuer sitzt: man kann den Blick schweifen lassen, den Veränderungen der Landschaft folgen. Von den Alpen über die Weingärten Südtirols bis zu den Hügeln um Verona und der Ebene der Emilia-Romagna. Die ersten Zypressen gibt es bei Rovereto, ab Verona leuchten silbrige Olivenbäume. Das Panorama wird italienisch, arkadisch – Villen an den Hängen der veroneser Hügel, weite Gemüse- und Getreidefelder in der Emilia, alte Gutshöfe wie in Bertoluccis „Novecento“. Die Strecke Bologna–Neapel führt über Florenz und Rom und dauert mit dem komfortablen Frecciarossa, dem Hochgeschwindigkeitszug, vier Stunden. Vier Stunden, in denen die vorbeiziehende Vegetation zum Indikator für südlichere Breitengrade wird. Napoli Centrale. Man spürt den Süden selbst am Bahnhof. Das Italienisch ist weicher geworden, alles ist leichtlebiger, unkomplizierter als im Norden, auf dem Platz vor dem Bahnhof wachsen Palmen.
Es wird Zeit für ein Abenteuer: mit der Circumvesuviana bis Sorrent und mit dem Linienbus bis Amalfi. Inmitten von Schülern, Hausfrauen und Pendlern sitzt man (mit Glück – wer die falsche Zeit erwischt, der steht) auf harten Schalensitzen und fährt durch die tristen Weichteile Neapels, unterbrochen von verlockenden Lautsprecheransagen: Ercolano, Pompeji Scavi e Villa Misteria. Doch die Relikte der Antike müssen warten. Auf eine andere Reise.
Die Fahrt von Sorrent bis Amalfi (und später bis Salerno, um die Reise in den Süden fortzusetzen) ist nichts für Menschen mit schwachen Nerven oder empfindlichen Mägen. Wer Vertrauen in das Sein hat (und in die Fahrtüchtigkeit des Buschauffeurs), dem wird diese Fahrt entlang der Strada Statale 163, der Amalfitana, zur reinen, zur unvergesslichen Freude. Es ist Frühling, der Himmel azur-, das Meer saphirblau. An den steilen Hängen blüht alles. Rot, purpur, blau, gelb, weiß, grün, üppig. Keine Halbheiten, alles hundertprozentig und verschwenderisch. Die Straße ist schmal, es geht links kerzengerade in die Höhe und rechts ebenso nach unten. Ein entgegenkommender Bus in einer Haarnadelkurve, das Reversieren wird zum kunstvollen Pas des deux. Der Beruhigungsversuch des Chauffeurs angesichts blasser Passagiere: „Da unten ist ja nur Wasser, wir können doch alle schwimmen.“
Die Strecke von Amalfi nach Salerno ist immer noch prächtig, immer noch aufregend, wenn auch – vor allem in Maiori mit den Hotelburgen in Plattenbauweise – mit schmerzhaften Schönheitsfehlern. Die Realität ist das integrative Element, das vor Illusionen bewahrt.
Nahezu durchgehend die Küste entlang und über weite Teile – vor allem im Cilento – von geradezu berückender Schönheit ist die Passage von Kampanien bis an den die Zehenspitze des Stiefels. Reggio di Calabria mit seiner Uferpromenade, diesem „schönsten Kilometer Italiens“, von der aus Messina zu sehen ist und, wenn das Wetter klar ist, der Ätna, ist eine unkomplizierte kleine Stadt. Liebenswert und der perfekte Standort, um sich auf Sizilien zu freuen. Dorthin nimmt man dann einfach das Traghetto. Eine gute halbe Stunde dauert die Überquerung der Straße von Messina. Dann ist man angekommen.
Und Sizilien? Sizilien ist eine neue Geschichte. Denn: »Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem.« Goethes Feststellung ist nichts hinzuzufügen.