Passivhaus
Kardinale Gelegenheiten
oder: Sei du die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.
Im Prinzip gibt es heute überhaupt keinen Grund mehr, konventionell zu bauen: Passivhäuser sind mittlerweile technisch so ausgereift, dass die Architektur freie Hand bekommen hat. Höchste Zeit also, dass mit dem Märchen, Passivhaus sei zwar gut für die Umwelt, aber gar nicht gut fürs subjektive Wohlbefinden, ein für alle Mal aufgeräumt wird.
Durchaus möglich, dass eine Facette der Berührungsangst darin begründet liegt, dass Wolfgang Feist, der »Vater des Passivhauses«, der seit zwanzig Jahren im ersten, damals von ihm geplanten Passivhaus in Darmstadt lebt, Physiker ist. So bekommt jemand, der sich beginnt, für Passivhäuser zu interessieren, aber mit Begriffen wie Blower Door Test, Heizwärmebedarf, Primärenergiebedarf oder – schon überhaupt! – Drucktestluftwechsel und den jeweils dazugehörigen Zahlen wenig bis gar nichts anzufangen weiß, schnell kalte Füße. Denn seien wir einmal ehrlich: Was wollen wir, wenn es ums Wohnen geht? Ganz sicher keinen Crash-Kurs in Bauphysik und Baubiologie. Ästhetisch ansprechend soll es sein (bekanntlich eine äußerst subjektive Angelegenheit), behaglich, komfortabel. Die vier Wände, die uns umgeben und zwischen denen wir viel Zeit unseres Daseins verbringen, sollten uns möglichst glücklich machen und Geborgenheit schaffen. Die einzigen Zahlen, die letzten Endes wirklich interessant sind: Wie groß ist das Zuhause und in allererster Linie: was kostet es.
Dazu kommt, dass viele aufgrund ästhetischer Vorbehalte immer noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn das Thema Passivhaus aufs Tapet kommt. Unweigerlich assoziieren sie mit diesem Begriff halb in die Erde eingegrabene Häuser mit kleinen Fenstern, die man nicht öffnen darf. Filzpatschen und Latzhosen in Architektur eben. Umweltverträglich, aber scheußlich anzusehen, und der Wohlfühlfaktor – zumal für Ästheten mit Hang zur Eleganz – gleich null. Bestenfalls verbinden die technisch und architektonisch etwas Versierteren mit Passivhaus noch die Vollverglasung an der Südseite und das Pultdach, das weit über die Fassade hinaus in die Landschaft ragt.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Meinungen über Passivhäuser sind zum Teil immer noch erbarmungswürdig schlecht. Und sie sind grundfalsch. Vor Jahren bereits hat der Vorarlberger Architekt Much Untertrifaller in einem Interview gefordert: „Ökologisches Bauen sollte schon längst eine Selbstverständlichkeit geworden sein“, aber vor allem: „Nicht jedes Haus muss lautstark schreien: Hallo, ich bin grün! Je weniger man die Ökologie einem Haus ansieht, desto gelungener.“ Ein kategorischer Imperativ hinsichtlich einer zeitgemäßen Bauästhetik, der längst in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Niemand, der sich heute bewusst mit unserer stark beschädigten Umwelt auseinandersetzt und dem am grünen Tisch ausgehandelten Lippenbekenntnis namens Kyoto-Protokoll mit weitgehender klimaschützender Selbstverantwortlichkeit begegnen will, muss deshalb schmerzhafte ästhetische Kompromisse eingehen und auf ein ansprechendes Ambiente verzichten. Im 21. Jahrhundert muss niemand mehr, um nachhaltig zu wohnen, in die Tonne des Diogenes ziehen und auf alles verzichten, was das Wohnen freundlich und behaglich und bequem macht. Passivhäuser – egal ob Einfamilienhaus oder Wohnhausanlage – sehen längst nicht mehr nach Bioladen aus, sondern sind abwechslungsreich, modern, elegant und architektonisch spannend.
Den Beweis dafür bieten zahlreiche Beispiele in ganz Österreich (auch wenn sich, bei genauerem Hinsehen, die Dichte an Passivhäusern in Vorarlberg als am höchsten herausstellt). Da gibt es Häuser am Hang, die scheinbar aus diesem herauswachsen, andere, die sich unaufgeregt in eine kleine Gartensiedlung fügen und erst, wenn man das Interieur sieht, ihren Witz und die Stilsicherheit ihrer Bewohner offenbaren. Es gibt Bauten, die den Heustadeln ihrer ländlichen Umgebung ähneln, um sich dank der verwendeten Materialien und ihrer Dimensionen als kleine Juwele der Baukunst (und des Engagements ihrer Besitzer) entpuppen. Und es gibt Bauten, die tatsächliche ehrwürdig und alt sind, deren Innenleben jedoch ein astreines Passivhaus ist. Denn auch Renovieren hin zu Passivhausstandard ist ohne weiteres möglich.
Und um mit einer weiteren Mär aufzuräumen: In einem Passivhaus darf man Fenster aufmachen, einen Kachelofen einheizen und eine Sauna haben. Auch dafür gibt es zahlreiche Beispiele, wie dahingehende Wünsche einzelner Bauherrn gelöst wurden. Eines der schönsten ist ein Hotel – hoch oben am Berg im Tiroler Serfaus – mit zweigeschossiger Panoramasauna.
Ist ein Passivhaus also eine Architektur des Glücks? Ist es die Möglichkeit, das zu erreichen, was Alain de Botton »die Kunst, daheim zu Hause zu sein« nannte? Einfach deshalb, weil man sich ein nach persönlichen Vorstellungen maßgeschneidertes Zuhauses schafft und gleichzeitig energieeffizient (also auch kostenreduziert) sowie wenig belastend für die Umwelt und das Klima wohnt? Ein Passivhaus ist durchaus auch in der Lage, »seine« Menschen in mancherlei Hinsicht zu verändern. Der hohe Grad an bewusstem Umgehen mit den Ressourcen ist keine Garantie für ständigen Frohsinn und durchgehende Zufriedenheit, und doch: Das Wissen, selbst bis zu einem gewissen Maß an dieser Veränderung teilzuhaben, die man sich von dieser Welt wünscht, kann Entwicklungen hin zu einem höheren Grad an Sensibilität, an bewusstem Leben auslösen. Doch das sind Fragen, mit denen sich die junge Wissenschaft der Wohnpsychologie auseinandersetzt – und dann und wann auch sensible Architekten.
Die intensivste Entwicklung, die das Passivhaus seit seiner glücklichen Geburt auf Wolfgang Feists Rechenschieber durchgemacht hat, ist wohl jene, dass auf die Formeln der Ingenieure schließlich die Kreativität der Architekten folgte. Jeglicher technischer Konformitätszwang ist graue Vergangenheit. Das Nützliche, das Sinnvolle, das Nachhaltige ist schön geworden und so flexibel, dass das Passivhaus, gegenüber einem konventionellen Gebäude immer noch eine Außergewöhnlichkeit, eigentlich zum Standard werden sollte. Denn die Prämisse, um die wir im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr herumkommen, ist, eine dem Menschen zuträgliche Lebensqualität auf unserem Planeten auch für die kommenden Generationen zu garantieren. Ein Passivhaus zu bauen, zählt zu jenen kardinalen Gelegenheiten, dies auch zu erreichen.
Foto © by Harald Eisenberger