Londoner Refugien

Brexit hin oder her: London ist und bleibt eine lebendige, wunderbare Stadt. Und eine laute dazu. Zweckdienliche Hinweise zu Rückzugsorten vom Trubel mögen da von einigem Nutzen sein. 

London, wo es im Mittelalter ein Unfreier schaffen musste, ein Jahr und einen Tag zu überleben, um ein freier Londoner Bürger zu werden, hatte immer eine Sonderstellung innerhalb des britischen Königreichs. Es war eine Stadt des Handels und der Handwerker, der starken Gilden und Zünfte und nicht zuletzt der mächtigen Bürgermeister, die mehr als einmal das Zünglein an der Waage der Machtverhältnisse im Land waren. Die Strukturen haben sich verändert, dennoch: Wenn in London die Bürgermeisterwahl am Programm steht, zeigt sich das als durchaus relevant für europäische Medien. Umso mehr, wenn London Schauplatz international relevanter Politik und Wirtschaft ist. Also eigentlich immer. Ken Livingston, der bei der vorletzten Wahl seinem konservativen Widersacher Boris Johnson unterlegen ist, hat sich in seiner Zeit als Major of London vielfach um die Stadt verdient gemacht. Er war es, der die Congestion Charge einführte, jene City-Maut, die den Individualverkehr Londons wesentlich reduzierte und die Stadt wahrscheinlich vor dem Verkehrskollaps bewahrte, und er war es, der sich maßgeblich dafür einsetzte, die XXX. Olympischen Spiele nach London zu holen.

Als im Sommer 2005 die Entscheidung des IOC für London fiel, wurde in der Stadt gebaut und renoviert, was das Zeug hielt. Baustellen gab es an allen Ecken und Enden, die U-Bahn wurde auf vielen Streckenverläufen renoviert (gut, das ist nichts Besonderes, sondern Alltag), das Olympiadorf im Osten der Stadt wuchs und gedieh.

Wem der Trubel in London so oder so zu viel wird, der hat die Möglichkeit, sich einer alten Londoner Institution zu entsinnen, die sich dem speziellen angelsächsischen Rechtssystem verdankt: die Inns of Court, jene abgeschlossenen Anlagen aus alten Gebäuden und stillen Wegen, aus kleinen Plätzen und Parks in der City of London, wo bis heute die Barrister residieren.

Die als Anwälte praktizierenden Rechtsgelehrten im London der Neuzeit operierten nicht vereinzelt und unabhängig, sondern verbanden sich zu mächtigen Gilden, den Inns of Court für Barrister (jene Anwälte, die vor Gericht auftreten) und den Inns of Chancery für Solicitors (jene Anwälte, die Klienten beraten). Wie das Wort „Inn“ bereits andeutet, handelt es sich dabei nicht bloß um Körperschaften, sondern um ein oder mehrere Gebäude und großzügige Grundstücke, wo einerseits für die Ausbildung und die Unterbringung der Studenten gesorgt und andererseits praktizierenden Anwälten adäquater Wohn- und Arbeitsraum zur Verfügung gestellt wurde. Zwanzig solcher Inns gab es, bevor sich im 16. Jh. die vier noch heute existierenden herausbildeten: Middle Temple und Inner Temple, Lincoln’s Inn und Gray’s Inn

Diese Inns of Court bilden im Wirbel Londons bis heute fast klösterliche Oasen der Ruhe. »Wer hier eintritt«, schrieb Charles Dickens in Barnaby Rudge, »lässt allen Lärm hinter sich.« Verschlafene Höfe, eine fast träumerische Trägheit sind es, was die Inns auszeichnet – und das trotzdem hinter den Fenstern hohe Aktenstapel und konzentriert arbeitende Anwälte zu erkennen sind. Ihre Qualität, Refugien in der quirligen Stadt zu sein, hat sich seit Dickens Zeiten nicht verloren. Und wer sich heute die Freude macht, die vier Inns in London zu besuchen, wird in jedem Fall damit belohnt, für eine Weile dem Getöse der faszinierenden, aber dann und wann doch recht anstrengenden Megacity zu entkommen. Außerdem kann sich der Besucher mit Muße ein wenig der Geschichte der Stadt und des Landes widmen: Alle vier Inns sind mit berühmten Namen verbunden, die beiden Temple Inns etwa mit jenem Sir Francis Drakes, Geoffrey Chaucers, John Maynard Keynes und Mahatma Gandhis, der hier ebenso studierte wie Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des freien Indien. Im Lincoln’s Inn mit seiner prächtigen offenen Krypta, in der Arme ihre Neugeborenen ablegen durften, wenn sie sie nicht nähren konnten (verzweifelte Väter und Mütter wussten sie hier gut aufgehoben, großgezogen und ihrem Talent entsprechend ausgebildet), wirkte Sir Thomas More, unglücklicher Lordkanzler Heinrichs VIII. und Verfasser von Utopia, dem Roman über eine ideale Gesellschaft. Wilkie Collins, Erfinder des klassischen englischen Detektivromans, war ebenso Mitglied wie Margaret Thatcher sowie Tony und Cherie Blair. Gallionsfigur des kleinsten Inns of Court, Gray’s Inn, ist Sir Francis Bacon, aber auch Königin Elizabeth I., die in ihrer Ära das Patronat über dieses Inn übernommen hatte. Und in der Kanzlei des hier ansässigen ehrwürdigen Anwalts Edward Blackmore arbeitete während seiner juristischen Ausbildung der blutjunge Charles Dickens. Dickens, so geht die Mär im Gray’s Inn, fand seine Arbeit so wenig fesselnd, dass er sich lieber damit beschäftigte, mit Kirschkernen aus seinem Fenster auf die Hüte vorbeigehender Damen zu zielen.

Ob man sich mit einem Buch auf eine Bank unter einem alten Baum im Temple Inn zurückzieht, ein Picknick in den Gärten des Gray’s Inn macht oder einfach die Stille im Lincoln’s Inn genießt: Alle vier liegen am Rand von Londons historischer Innenstadt, sind ganz einfach mit der U-Bahn zu erreichen, und das einzige, das man unter allen Umständen beherzigen sollte: Die traumhafte Ruhe zu respektieren.

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